Ein Jahr Übersee

Über ein Auslandsjahr in England von Alexander Carazzato  

Alles begann mit der Entscheidung: Ich will in die große weite Welt hinaus. Doch wie nur? Da bot sich mir ein Auslandsjahr. Ich würde nicht nur ein fremdes Land besuchen, sondern sogar ein Jahr lang dort leben. Klingt doch traumhaft oder? War es auch! Meine Wahl fiel auf England. Einerseits, weil mich die englische Sprache reizte und es mein Wunsch war, bevor ich versuchen wollte, eine neu Sprache zu erlernen, mein Englisch auf ein angemessenes Niveau zu bringen, außerdem, weil mir die Idee gefiel, in einem Land zu leben, das nicht von Grund auf anderes ist als das meine, aber trotzdem fremd und verschieden ist. Zudem gab es die Möglichkeit, ein Stipendium für England zu erhalten. Das gelang mir dann auch.
Der Sommer verging ähnlich wie alle anderen, noch konnte ich es kaum glauben. Anfang September war es dann soweit. Zusammen mit den anderen Glücklichen, denen es gelungen war, an das Stipendium zu kommen, flog ich nach England. Die Aufregung war groß; uns erwartet Unbekanntes. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, an dem ich vor meiner zukünftigen Schule stand und darauf wartete, dass mich mein host Dad abholen würde. Als er dann endlich da war und mich willkommen hieß, fühlte ich mich gleich wohl bei ihm.
Die ersten Tage waren traumhaft. Zusammen mit meinem Zimmergenossen erkundete ich das kleine Städtchen New Milton, besonders an den Strand zog es mich. Als ich zum ersten Mal die Küste erblickte, wusste ich, ich werde den Anblick nie mehr vergessen. Zwar war das Meer kalt, die Küste dafür idyllisch. Auch die Leute waren sehr freundlich zu mir, neugierig fragten mich viele Where are you from?. Das erinnerte mich zwar an meinem Akzent, es bereitet mir aber immer Freude, über meine Herkunft und mein Glück zu berichten. Alles um mich herum sprach Englisch. Und nicht irgendein Englisch, wie wir es aus Fernsehen oder Internet gewohnt sind, sondern britisches, echtes, richtiges Englisch. Das hatte ich natürlich erwartet, dennoch war es toll.
Als ich gelernt hatte, mich etwas zu orientieren, stand schon das nächste große Ereignis an: der erste Schultag. Das letzte Mal, dass ich mich so auf den Anfang der Schule gefreut hatte, war, als ich als Sechsjähriger eingeschult wurde. Schnell lernte ich Lehrer und Mitschüler kennen. Zu erzählen, erklären und fragen gab es viel. Durch meine englischen Mitschüler lernte ich das Leben in England viel genauer kennen. Zu Hause in der Familie natürlich ebenfalls. Genau das macht das Auslandsjahr so wertvoll: Man lernt nicht einfach etwas über ein fremdes Volk oder eine fremde Sprache, man lebt es! Man sieht das Leben in England so, wie es ist, nicht nur die „typischen“ Merkmale, die ins Ausland dringen. Auch das ganz normale, alltägliche England. Ebenso ist es mit der Sprache. Meine Englischkenntnisse haben stark zugenommen, aber nicht nur die formale Sprache der Schule, auch und vor allem das Englisch, wie es tatsächlich gesprochen wird: umgangssprachliche Ausrücke, Redewendungen; authentisches Englisch und ein Sprachgefühl.
Langsam näherte sich dann Weihnachten. Die Weihnachtszeit in England ist toll! Die Städte dekorieren sich, und das Fest ist überall zu erblicken. Bars bieten eigene Weihnachtsgetränke an, in der Schule kommt Weihnachten immer wieder zu Wort und, das Allerwichtigste, man kauft Weihnachtskarten. Dutzende. Engländer sind mit Abstand die begeistertsten Kartenschreiber, die es gibt. Alles, was nur irgendwie zu beglückwünschen oder zu bedanken ist, wird durch eine Karte ausgedrückt. Ich habe mich der Tradition gern angeschlossen und deshalb in eigenen Geschäften viele Karten für Verwandte und Freunde, englische und italienische, gekauft. Auf diese Art erweitert ein Auslandsjahr den geistigen Horizont. Man sieht neue Dinge, trifft auf neue Idee und Denkweisen, oft ist der Unterschied zum heimischen groß, oft nur klein. Man lernt, auch andere Möglichkeiten und Sichtpunkte zu berücksichtigen. Man sieht, dass es andere Methoden gibt -zum Beispiel belegt man in der englischen Schule höchstens fünf Fächer nach eigener Wahl.
Abschließend behaupte ich, ein Auslandsjahr ist das Beste, für das ich mich in meinem Leben bisher entschieden habe. Man schließt einzigartige Freundschaften, erlebt unglaubliche Erfahrungen, lernt vieles, profitiert fürs Leben. Man erlebt etwas Besonderes. Selbst im Juni nach Italien zurückzukommen war zwar traurig - das Auslandsjahr war endgültig vorbei und wie im Fluge vergangen - aber es war zur selben Zeit die letzte positive Erfahrung. Man sieht Familie und Freunde wieder, die eigene Heimat, das Altbekannte. Aber man erlebt alles etwas anders. Hat im Hinterkopf, dass man wenige Tage zuvor noch irgendwo weit entfernt aufgewacht ist, eine andere Sprache gesprochen hat, Dinge gesehen hat, die hier niemand sah. Ich fühlte mich in gewisser Weise erfahrener als zuvor. Das Leben in Bozen war das aller Tage, meines hingegen hatte sich verändert.