Zuhause am anderen Ende der Welt

Sabine Tamanini verbrachte ein Auslandssemester in Costa Rica

Als sechszehnjährige „WissLyzerin“ habe ich mit meinen Eltern zusammen entschieden, dass für mich ein riesiger Traum in Erfüllung gehen sollte: Ein Auslandssemester in Costa Rica.
„Na fahlts! Woasch wia viel du verpassch wenn sofl long weg bisch?“, „Du bist dir dessen bewusst, dass das alles aufgeholt werden muss?“, „Na wieso muaschn du schun so friah aweck fohrn? Wenn studiern geasch, bisch jo eh schun nia mehr dorhoam!“: Die Zeit vor dem Start war nervenaufreibend, und die Liste der Nachteile eines Aufenthaltes im Ausland lang:
So lange von Freunden und Familie getrennt sein, so viel verpassen, nicht nur in der Schule aber auch dort, die Angst zu versagen und der Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Aber da gab es einen ganz großen, ganz wichtigen Punkt auf der Pro-Liste, der mich dazu getrieben hat, es doch zu riskieren: Das Fernweh, die Neugier, die Entdeckerfreude.
Und sobald ich mit dem Zug nach Rom mein geliebtes kleines Südtirol verlassen hatte, gab es auf einmal keine Zweifel mehr, nur noch mich und die große weite Welt.

Zusammen mit 45 anderen Italienischen Oberschülern bin ich von Rom aus, über Madrid bis nach San Josè geflogen, von wo aus wir uns über das ganze, relativ kleine Land verteilt haben. Costa Rica gilt als das „glücklichste Land der Welt“, und diesen Ruf haben sich die „Ticos“, wie die Costa-Ricaner sich stolz nennen, allemal verdient. Überall spielt Bachata und Merengue (lateinamerikanische Tanzmusik), die Menschen gehen mit einem Lächeln in den Augen und einem Lied auf den Lippen durch die vollen Straßen, und bei jeder Gelegenheit wird gefeiert. Hat die Schwester der Frau des Cousins deiner Mutter Geburtstag? Gleich wird die ganze unzählige Verwandtschaft zusammengetrommelt und gefeiert, Tacos und Pinto werden gegessen und Piñata geschlagen. Die Zeit in Costa Rica verläuft langsamer. Der einheimische Gruß „Pura Vida“ ist dort wirklich in allem spürbar. Mit offenen Armen und einem liebevollen „mi amor“ bin ich von den Ticos in ihre Kultur aufgenommen worden, und das obwohl ich kein Wort Spanisch sprach. Das hat sich aber auch bald geändert. Nachdem ich endlich nach einigen Komplikationen eingeschult worden war, kam das Spanisch wie von ganz alleine. Nach zwei bis drei Wochen konnte ich praktisch alles verstehen und nach einem Monat schon relativ gut sprechen. Mit dem fließenden Spanisch haben sich nun auch die Freundschaften, die ich bereits geknüpft hatte, gestärkt. Besonders mit meiner Gastschwester war ich sehr eng befreundet und habe auch noch heute viel Kontakt zu ihr. Meine ältere Gastschwester hingegen besuchte die Abschlussklasse, weshalb sie sehr mit den Vorbereitungen auf ihre „Bachillerato“-Prüfungen, mit unserer Matura gleichzustellen, beschäftigt war. Da Costa Rica seit 1949 über kein Militär mehr verfügt, fließt mehr Geld in die Bildung als in anderen Staaten Zentralamerikas. Trotzdem ist ein deutlicher Unterschied, vor allem bei den Englischkenntnissen der Schüler, zwischen öffentlichen und privaten Schulen zu spüren. Meine jüngere Schwester und ich haben beide die vierte Oberstufe des öffentlichen Lyzeums Manuel Benavides Rodriguez besucht. Das Schuljahr ist in drei Trimestern unterteilt, wobei zwei Mal pro Trimester eine Prüfungswoche stattfindet, während der alle Schüler ihre Prüfungen in den verschiedenen Fächern ablegen. Wird ein Trimester nicht bestanden, hat man die Möglichkeit auf eine Nachprüfung, also wie bei uns.
Im November ging dann das Schuljahr langsam zu Ende, und die Sommerferien fingen an, was für mich so viel hieß wie: Kreuz und quer das kleine Land bereisen!
Ich hatte zwar durch die monatlichen AFS-Camps schon viel von Costa Rica gesehen, aber bei Weitem noch nicht alles. Von einer AFS-Reise nach Nicaragua, über einen Gruppen-Trip an die Karibikküste, bis zu einer fünftstündigen Busreise alleine ans andere Ende des Landes war alles dabei. Auf diesen Reisen bin ich barfuß durch den Dschungel gewandert, habe in Wasserfällen gebadet, habe unzählige Tiere, wie Affen, Faultiere, Alligatoren, Papageie oder Riesenechsen in freier Wildbahn gesehen. Ich habe miterlebt, wie eine Wasserschildkröte an Land unter großen Bemühungen ein Loch gegraben, worin sie ihre Eier abgelegt hat und dann zurück ins Meer gekrochen ist. Ich habe mir am Karibischen Strand Zöpfe flechten lassen, während Bob Marley im Hintergrund lief und ich habe am anderen Ende des Landes, am Pazifik, nachts mit Freunden am Strand am Lagerfeuer gesessen und Musik gemacht; ich bin auf menschenleeren, schneeweisen Sandstränden gelegen und ich habe auf riesigen Märkten kiloweise Obst gekauft, das ich in meinem Leben zuvor noch nie gesehen hatte. Wildfremde Menschen sind meine besten Freunde und eine zweite Familie geworden, und ich kann jetzt ein zweites Land meine Heimat nennen.
Kein anderes Wort kann eine Schüleraustausch-Erfahrung besser beschreiben als dieses: intensiv. Das Essen schmeckt intensiver, die Gerüche riechen stärker, die Musik wird lauter und bewegender, und kein Tag gleicht dem anderen. Ist man traurig, dann aber so richtig, und im Gegenzug dazu ist man im nächsten Moment schon wieder der glücklichste Mensch auf Erden. Man lebt jeden einzelnen Tag, weil man weiß, dass die Tage gezählt sind.

Ich empfehle, nein, ich rate es jedem über seinen Schatten zu springen und es zu wagen, ein Auslandssemester oder sogar ein Jahr zu machen. Alle Hürden, die zunächst so unüberwindbar scheinen, sind es am Ende doch nicht. Eine solche Erfahrung gibt einfach so viel mehr zurück, was einem keiner mehr nehmen kann.
In diesem Sinne ¡Pura Vida!
Sabine Tamanini